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Untendrunter sind wir alle nackt

18. Februar 2016

Kleider machen Leute – statt Kleidungsstück mit U: unbekleidet.

 

Als Jugendliche habe ich einen Aktzeichenkurs gemacht. Eine ganze Woche hatten wir ein und dasselbe Modell, A., eine Frau mit schwerem Körper, ebensolchem Haar und Sommersprossen; mal hielt sie (was ich bewunderte) zwei Stunden still für uns, mal bewegte sie sich in Zeitlupe, mal zeichneten wir sie in Aktion. Das ist so lange her, daß ich kaum mehr etwas davon weiß, aber an eine Sache erinnere ich mich gut: wie ich Schultern, Brüste, Hals zeichnete, Verkürzungen analysierte, Knie und Hintern genauer denn je betrachtete, um sie auf großformatige Papiere zu bannen – und wie das plötzlich aufhörte.

Auf einmal sah ich da nicht mehr Rücken, Arme, nackten Bauch einer Frau, ich verlieh keine Adjektive mehr: nicht sommersprossig, nicht uneben, nicht straff oder überbordend, sondern ich sah Bewegung, Linie, Lichtfall, ich sah einen Körper, der alle Körper hätte sein können, und das war, dieser Körper war unendlich schön.

Ich muß einen Laut von mir gegeben haben, denn alle drehten sich um nach mir, auch A. Sie lächelte kurz, ehe sie wieder ihre Pose einnahm. Vielleicht wußte sie, was sie mir in diesem Moment geschenkt hatte.

 

Verkleidet hingegen geht es hier zu.

 

 

 

10 Kommentare
  1. 18. Februar 2016 8:27

    Schön!

  2. 18. Februar 2016 11:45

    Ein kleiner Augenblick nur – aber wunderbar.

  3. 18. Februar 2016 11:47

    Ein Mußekuss im besten Sinn …

  4. 18. Februar 2016 12:34

    Faszinierend, Dein Text über Kleiderloses für das Kleiderschrankprojekt. Ich habe schon sehr oft darüber nachgedacht, wie das wohl sein mag für ein Modell in einem Kurs für Aktzeichnen. Meinst Du wirklich, die A. erkannte Deine Gedanken? Ich meine, hatte sie selbst eine Ahnung vom Zeichnen, insbesondere Aktzeichnen?

    • 18. Februar 2016 12:55

      Sie war Kunststudentin, und sie war – ich hatte noch ein paarmal das Vergnügen mit anderen – ein auffallend entgegenkommendes Modell. Offenbar wußte sie genau, was Anfänger brauchen und wie man die Anforderungen stiegern kann. Sehr erstaunlich.

  5. 18. Februar 2016 13:08

    Ein perfekter Moment… so schön beschrieben… danke…

  6. 18. Februar 2016 14:05

    das fasziniert mich, dass das genaue hinschauen die adjektive vertreibt!

  7. 19. Februar 2016 1:05

    Wow! Was für ein Erlebnis.

  8. 23. Februar 2016 22:46

    Ein wunderschöner, berührender Moment, Inspiration im allerbesten Sinne. Es ist so ein Geschenk, wenn wir hinter der Welt der Erscheinungen plötzlich das pure Sein entdecken!

Trackbacks

  1. Kleider machen Leute – von A bis Z | Wortmischer

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