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Drei kurze Geschichten über die Zeit

25. Oktober 2012

1.

Letzte Woche habe ich einen Kalender für das kommende Jahr gekauft und angefangen, Termine einzutragen. Damit ist die Illusion dahin, das Neue Jahr könnte ein wirklich neues sein; es ist eingeteilt, planbar und viel zu kurz, wie alle vorigen auch.

2.

Als wir klein waren, fuhren wir jedes Jahr zur Großmutter, fünfhundert Kilometer über ödes Land in eine winterlich-düstere Stadt. Ihre Wohnung, um einen enormen Kachelofen herum angelegt, stand voller Uhren – nicht abgeholten Uhren von Kunden des Großvaters, der hier vor dem Krieg seine Werkstatt hatte; wie nach ihm seine Tochter und schließlich deren Tochter auch. Uhren bevölkerten jede Fläche, drängten sich auf allen Schränken, auf den Fensterbänken, auf Anrichten und sogar auf den Tischen. Alle Uhren gingen; sie wurden regelmäßig aufgezogen, gewartet und repariert, wo nötig. Jede zeigte eine andere Zeit.

Unabhängig von Tag und Nacht klingelten, dröhnten und schepperten sie, was sie für die zu schlagende Stunde hielten. Schwiegen einmal alle Läutewerke, so hörte man sie ticken, Heerscharen alter Wecker, die Wand- und Schrankaufsatzuhren, porzellanene Zierührchen und drei, vier Großvateruhren auf dem Flur; man konnte anhand ihres Herzschlags mit geschlossenen Augen durch die Wohnung finden.

Der Vater, Verfechter preußischer Tugenden, mißbilligte diese Anarchie auf den Zifferblättern. Mehrmals regte er an, doch einmal sämtliche Zeitmesser auf Gleichschritt zu trimmen. Die Antwort war stets dieselbe: Nu, du bist hier bei Uhrmachers daheim.

Wir Kinder lernten, unter der Brandung der Zahnräder einzuschlafen und von keinem Glockenschlag wach zu werden, sondern erst vom Licht des Morgens.

Das ist viele, viele Jahre her. Was aus den Uhren des Großvaters geworden ist, weiß ich nicht.

3.

Ich habe neuerdings eine Wanduhr, ein schwarzes, glänzendes Quadrat. Sie empfängt, ganz Stand der Technik, das Signal des genauesten Zeitgebers per Funk. Doch wo andere stur 20:36:23 … 24 … 25 … durchblinken, da sagt meine Uhr: zehn nach halb neun, in freundlich leuchtenden Buchstaben. Und sie meint es wahrhaftig nur so ungefähr.

28 Kommentare
  1. 25. Oktober 2012 21:06

    Ganz hervorragend, liebe Lakritze, ist das gedacht und geschrieben!
    Besonders.

    Danke, mb

  2. 25. Oktober 2012 23:30

    Dürfte ich über diese Deine Uhr etwas mehr erfahren? (vulgo: Wo kann die erworben werden um welchen Preis?)

    • 26. Oktober 2012 8:21

      Naja, Maßanfertigung … Frage mal die Suchmaschinen nach »word clock«. Es gibt Bauanleitungen.

    • 26. Oktober 2012 8:35

      Ah ja. Da hab ich doch gleich eine Version für meinen Desktop gefunden (für X11 und tcl/tk) – zuhause geht es ans Comiplieren …

  3. 26. Oktober 2012 10:25

    hach, diese Word Clock, das wäre auch meine Lieblingsuhr! Von der träume ich schon lange.
    Ein schöner Einblick, wie’s bei Uhrmachers zuhause zugeht. Ich stelle es mir sehr bildlich (und akustisch) vor.

    • 26. Oktober 2012 10:35

      Die Word Clock scheint mir persönlich eine Mogelpackung: die mißt die Zeit sehr wohl genau, und man kann sie auch genau ablesen; dafür wurde gesorgt. An meiner Uhr liebe ich das Ungenaue. Das ist so schön … unzeitgemäß.

  4. 26. Oktober 2012 14:27

    Eine Freundin hatte zu Schulzeiten mal eine Armbanduhr mit Farbkuchenstückchen statt Zahlen. Da wars dann ungefähr zehn nach lila.

    • 26. Oktober 2012 14:44

      Das wäre auch was für mich, wenn ich solche Dinge nicht ständig verlegen und verlieren würde. (Passiert mit Wänden nicht so leicht.)

  5. 26. Oktober 2012 15:19

    Sehr schön, besonders die Geschichte aus deiner Kindheit, liebe Lakritze! Die neue Uhr scheint mir ja sehr sympathisch zu sein : )

  6. 26. Oktober 2012 16:37

    herrliche geschichten und toller kommentarstrang. grad klingelt der wecker auf dem iphone und sagt: los gehts, zu freundin c. und dann ans konzert. liebe gute böse zeitmesser!
    herzlich
    soso

  7. 26. Oktober 2012 16:52

    und gerade bekomme ich eine Mail mit dem Titel: „de klok tikt“. passt doch. Und klingt ausländisch gleich besser.

  8. 27. Oktober 2012 8:51

    Petra, ja! Ich bin zwar keine Uhrenfreundin, aber diese mag ich.
    Soso, ich weiß. Es gibt auch gute Termine. .)
    Tine, dieses Ausländisch klingt sowieso äußerst hübsch!

  9. karu02 permalink
    27. Oktober 2012 13:50

    Uhr oder nicht Uhr scheint mir eine nicht unwesentliche Charakterunterscheidung zu sein. Ich trage auch keine und ignoriere sie gerne. Der Mann an meiner Seite verrät Nervosität leicht dadurch, dass er alle paar Minuten auf die Armbanduhr schaut – selbst dann, wenn er gar keine am Arm hat. So habe ich „Zeit“ mich darauf einzustellen und Rücksicht zu nehmen. Eine Uhr mit Worten würde mir auch gefallen, da ich mit Zahlen noch nie etwas anfangen konnte. Der Uhrmacherhaushalt ist ganz wunderbar, schön dass Du dort Enkelin sein durftest.

    • 27. Oktober 2012 16:10

      Als Kind fand ich den Uhrmacherhaushalt … normal. Vieles ist mir erst im Nachhinein aufgefallen, manches jetzt erst, wo ich einen Text draus mache.
      Ich habe gemerkt, daß man die Uhrzeit gut abschätzen lernt, wenn man keinen Zeitmesser hat. Und wenn man wirklich dringend wissen muß, wie spät es ist, kann man immer wen fragen.

    • karu02 permalink
      27. Oktober 2012 18:27

      Meist braucht man das nicht einmal, die Welt ist voller Uhren, in jedem geparkten Auto und an fast jedem Handgelenk in Cafés. Nur die Kirchturmuhren gehen nicht mehr verlässlich richtig. ;-)

  10. 27. Oktober 2012 14:42

    Das Uhrengeticke und Geläute der Grosseltern-Uhren ruft Erinnerungen wach. Eigentlich mochte ich den sanften, tiefen Stundenschlag von Opas Standuhr, die Uhr selber fand ich potthässlich.
    Schön geschrieben! und schönes Wochenende!

    • 27. Oktober 2012 16:12

      Danke. Die Standuhr … hätte man sie nicht mit dem Gesicht zur Wand drehen und ihr nur noch zuhören können? ,)

  11. 27. Oktober 2012 18:26

    Die Geschichten gefallen mir gut. Faszinierend, sich die Wohnung mit dem ständigen Geticke und den Gongs vorzustellen!

    • 1. November 2012 21:28

      Seither schlafe ich bestens bei allen Arten von Geticke und Gedröhn. Wegen mir muß keiner nachts die Kirchturmuhrglocke abstellen …

  12. 30. Oktober 2012 10:36

    wunderbar geschrieben, ich lief zusammen mit den laufenden Uhren durch eine dunkel wirkende Wohnung, sie hatte einen langen Flur, der um die Ecke bog, nein verlaufen habe ich mich dort nicht, weil mir der Gong der Standuhr den Weg wies ;)

    schade, dass du nicht weißt was aus all den Uhren geworden ist…
    herzlichst
    Frau Blau

    • 1. November 2012 21:29

      Danke! Ja, wo die Uhren geblieben sind, das wüßte ich gern. Heimlich hoffe ich, sie wurden nie gestellt.

  13. 2. November 2012 12:11

    Zu spät, zu spät, und ich weiß nicht einmal wieviel zu spät! Gratuliere, liebe Lakritze, auch zur vollendeten Uhr.

  14. 28. Dezember 2015 23:27

    Ich gebe zu, diese Uhrmacherwohnung wäre mir ein Alptraum. Aber dass man sich selbst an dieses Ticken und Tacken gewöhnen kann!

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