Zum Inhalt springen

Katastrophentourismus

2. Februar 2014

Hochhaussprengung? Fehlt mir noch. Also auf nach Frankfurt, wo das Uni-Hochhaus mit seinen 116 Metern ordentlich Staub aufwirbeln sollte.

Falls irgendwer in der Stadt nicht weiß, wo das Hochhaus fallen soll: einfach treiben lassen. Alles, was Beine hat, ist auf dem Weg zur Gefahrenzone. Ein Stimmengewirr in den Straßen: Der Bau (ein 70er-Jahre-Vertreter des Brutalismus) ist Gesprächsthema, die guten Zeiten an der Uni, die besten Sichtachsen und der leichte Nebel, der die höheren Häuser obenrum unscharf macht.

Einen der besseren Plätze erkennt man daran, daß hier Würstchenbuden stehen. Kaffee, Glühwein, Bier, zu durchaus geschäftstüchtigen Preisen. Und mit dem Wechselgeld wünscht die Würstchenverkäuferin: Viel Spaß!

Um zehn soll der Quader kollabieren, ab halb zehn kursiert der Witz: also, noch steht er! Zehn vor zehn sind alle in Position, die Kameras gezückt. Unverständliche Durchsagen. Kinder machen sich Sorgen um Vögel, die im ausgeweideten Bau wohnen könnten (aber Finn-Leon, die können doch wegfliegen); weithin leuchtet das Graffito ELFENBEIN ganz oben über allen Fensterhöhlen.

Eine Sirene. Alle gucken in eine Richtung. Nichts. Kurz nach zehn schon.

Zwei Sirenentöne. Immer noch nichts. Eine gefühlte Ewigkeit später dröhnt über Lautsprecher: Zehn … neun … acht …, und, unwiderstehlicher Zwang des Countdowns, alle zählen begeistert mit: … eins … null … Sprenguuung! … — Stille. Hier und da beginnt jemand zu gickeln, da tut es auf einmal einen gewaltigen Schlag:

Ein Staubring legt sich um die Fassade, bevor sie wie ein loser Strumpf nach unten rutscht; einen Augenblick steht das nackte Innere des Kolosses bürowandfarbig vor dem grauen Himmel, und dann fällt auch das klanglos in sich zusammen. Der Staub scheint allen Lärm zu schlucken, quillt hoch und treibt über die Stadt davon. Jubel, Applaus, Auslösergetöse. Ein Bau weniger. Ich kannte ihn ja nur vom Sehen, aber ein bißchen tut er mir leid.

Am Himmel verdünnt sich die Staubwolke, unten zerstreuen sich die Massen. Man ist allgemein zufrieden mit der Sprengung, auch wenn gar nichts schiefgegangen ist. Jetzt ist wieder Platz in der Skyline; vielleicht für was schönes Neo-Brutalistisches.

Und ich bin dabeigewesen.

Fotos? Wie Sand am Meer: Bildersuche im Netz, Wikipedia, Nachrichten … Nein, hier nicht. Bitte gehen Sie weiter; hier gibt es nichts zu sehen.

26 Kommentare
  1. 2. Februar 2014 16:17

    Endlich Platz für die Natur oder Neues! Danke für den aufregenden Bericht.

    • 2. Februar 2014 17:18

      Natur sicher nicht. Ich las, die Gegend ist schon lukrativ verplant.

  2. 2. Februar 2014 16:28

    Das zeitversetzte Einstürzen von Außenhülle und Innenleben hat auf einigen der Videos, die im Netz zu finden sind, etwas durchaus Magisches, scheint doch ein Schemen des Gebäudes kurz zu verweilen, bevor auch er zu Boden geht.

    • 2. Februar 2014 17:20

      Wenn so große Dinge aus dem Lot geraten, ist das immer ein Spektakel. Die Costa Concordia lag auch so … verkehrt.

  3. 2. Februar 2014 16:30

    zugeguckt hätte ich auch gerne

    http://vivilacht.wordpress.com/2014/02/02/frankfurt-aktuell-2/
    Vivi hat Bilder zum Turmfall.

    • 2. Februar 2014 17:20

      Ha, und aus dem Schlafzimmerfemster –! Das ist ein Logenplatz.

    • 2. Februar 2014 18:33

      sicher, das war der beste Logenplatz, niemand, der einem die Sicht nimmt, kein Gedraenge udn keine Buden

    • 2. Februar 2014 19:15

      Keine Buden, das ist ein klarer Vorteil. (Zum Kühlschrank ist es dann ja auch nicht weit. .))

  4. 2. Februar 2014 16:50

    Umwerfend guter Bericht. Den lese ich vor Begeisterung gleich nochmals. Ich habe zur Relektüre nur leider keine Imbissbude griffbereit.

    • 2. Februar 2014 17:25

      Danke. Nur echt mit Würstchen, ist doch klar!
      (Den Kaffee an so Buden kann man übrigens, aber was wundere ich mich, kaum trinken. Geschweige denn genießen. Die Kernkompetenz muß wohl beim Glühwein liegen.)

    • 2. Februar 2014 17:59

      Wobei ja, recht bedacht, überhaupt vorhandene Kompetenzen schon mal nicht übel sind. Und genießbarer Kaffee scheint mir hierzulande eh eine schwer zu bewältigende Herausforderung zu sein. Immerhin, sprengen, das klappt offensichtlich.

    • 2. Februar 2014 19:18

      Und Countdown! Muß sich scheint’s nur einer hinstellen und lauthals rückwärts zählen. Sofort Mengen begeisterter Mitzähler.

      PS: Wobei mich ja besonders die Fähigkeit zu spontanen Volksfesten fasziniert.

  5. trippmadam permalink
    2. Februar 2014 17:30

    Ich habe ja nicht in Frankfurt studiert und war nur mal im Turm während der Uni-Orientierungswoche irgendwann in der Oberstufe (lang, lang ist’s her). Die Sprengung habe ich nur im Fernsehen „erlebt“, aber ein bisschen weh getan hat es schon. Es sollen, so habe ich irgendwo gelesen, Bürohochhäuser an die Stelle kommen. Ob die schöner sein werden?

    • 2. Februar 2014 19:07

      War keine Schönheit, aber Stadtbild. Schöne Bürohochhäuser –?
      Mh, die Wahrscheinlichkeit ist erfahrungsgemäß gering.

  6. 2. Februar 2014 17:47

    Puh, als wären wir dabei gewesen :-)
    Danke für diesen aufregenden Bericht…

    • 2. Februar 2014 19:09

      Ha, dank Netz ist das ja sowieso alles kein Problem mehr. Man muß eigentlich gar nicht mehr vor die Tür. (Wenn man welches hat. Du hast wieder welches –?)

    • 3. Februar 2014 9:44

      Ja, nicht nur FR-SO, sondern auch SO-FR ;-))

  7. 2. Februar 2014 18:55

    und so genial nacherzählt. die bilder kommen von allein. :-)

    • 2. Februar 2014 19:14

      Danke, Soso. Das Netz ist gerade voll von stürzenden Fassaden aus allen Perspektiven … .))

  8. 3. Februar 2014 13:55

    Die Türme des WTC fielen nicht anders. Gab es deiner Beobachtung nach oder bei Dir nicht auch ein Gruselschauder, wenn man dabei an das Ereignis 9/11 zurückdachte? Oder spielte das keine Rolle? Selbst am TV musste ich daran denken, gestern bei den Nachrichten.

    „Schiffbruch mit Zuschuer“ nannte das der Philosoph Blumenberg einmal, obgleich gestern – glücklicherweise – niemand außer den Türmen Schaden nahm. Aber Dein schönster Satz war für mich: Ich kannte ihn ja nur vom Sehen, aber ein bisschen tut er mir leid.

    Ich mag es einfach nicht, dieses Großreinemachen für Neues: Auch dieser Elfenbein-Turm war ein – wenn auch hässliches – Zeugnis der Stadtgeschichte. Wo kämen wir hin, wenn wir alle wirklichen oder vermeintlichen Bausünden abrissen? In eine wahrhaft brutale Scheinidylle, denke ich.

    Gruß, Uwe

    • 3. Februar 2014 20:18

      Oh, die New Yorker Türme wurden ringsum besprochen. Für mich liegt die Assoziation nicht gar so nahe; ich habe die Bilder vom WTC erst sehr viel später gesehen; für mich war die Nachricht zunächst nur Text.

      Und ja, ich finde das seltsam, dieses Platzschaffen. Was dabei herauskommt? Die Höhe der Zeit. Immer das, was gerade modern ist. Da kann man gern billig bauen.

  9. 4. Februar 2014 11:47

    als wäre ich dabei gewesen- wunderbar erzählt, liebe Lakritze und die Bilder habe ich jetzt auch so im Kopf … denn auch sonst habe ich noch keine davon gesehen, da ich ja ohne TV lebe!

    • 6. Februar 2014 15:52

      Ha, dann lebst Du genauso unterm Stein wie ich … wie schön, noch mehr Fernsehverweigerer!

    • 7. Februar 2014 9:37

      verblöden kann ich auch ohne TV ;)

  10. 13. Februar 2014 10:36

    Toll. Danke!

    • 14. Februar 2014 13:40

      .) Gern geschehen. Ich mag ja Feldforschung.

Kommentare sind geschlossen.