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#Schattenklänge: Was sich gehört

5. Februar 2018

Alles im Dorf hatte seine feste Ordnung, und umso fester, je mehr ihr die Grundlage verloren ging. Die Zeiten änderten sich: Nicht mehr jedes Bauernkind wurde Bauer; Äcker und Weinberge wurden verkauft, Neubaugebiete entstanden. Es zogen Fremde zu, sogar Evangelische. Mit denen hatte man nichts zu tun; innendrin im Dorf galten die alten Regeln noch. Da scharten sich die Gassen um die Kirche, samstags wurde gekehrt, und jeder wußte, wer wann zur Messe ging.

In diesem winzigen Kosmos zwischen Weinbergen – Kirche, Schule, Dorfplatz, Friedhof – gab es eine Gasse, in der man besser nicht wohnte, und da wohnten für kurze Zeit die E.s in einem Häuschen auf gammeligen Fundamenten, das aussah, als sei es im Kopfsteinpflaster versunken; aus der Haustür drangen Kindergeschrei und fremdartige Kochgerüche: die E.s waren Türken, bis dato die ersten und einzigen Ausländer im Ort, ein neues Haus im Neubaugebiet konnten die sich nicht leisten.

Sencan kam in meine Klasse. Sie muß älter gewesen sein, sie überragte uns alle um einen Kopf, aber ihr Deutsch war nicht gut, und so sollte sie ins dritte Schuljahr. Ich erinnere mich am besten an ihr Lächeln, das ihr Gesicht ganz erhellte, wenn sie mit Händen und Füßen erzählte.

Es nützte ihr nichts. Wir Kinder hatten nichts gegen sie, zunächst, aber die Art, wie die Lehrerin sie vorstellte, machte klar, daß hier etwas nicht stimmte. Bald war ein Teil der Klasse gegen sie; es dauerte eine Weile, bis sie das merkte. Es stellte sich heraus, daß sie genauso schnell weinte, wie sie lachte, und es gab viel, womit man sie zum Weinen bringen konnte: an ihren langen Haaren reißen, ihre abgetragenen Kleider verspotten, ihr Deutsch nachäffen.

Ich machte dabei nicht mit; soviel kann ich mir zugute halten. Ich mochte ihr Lächeln, und ich hatte das Gefühl, daß sie Schutz brauchte, aber so stark war ich nicht. Immerhin, ich unterhielt mich mit ihr (sie lernte schnell), und ich gehörte zu denen, denen sie beibrachte, daß ihr Name nicht „Senkan“, wie die Lehrerin sie hartnäckig nannte, sondern Sendschan ausgesprochen wird. Natürlich ging das nicht einfach so hin. Auch mir rief man „Türke!“ hinterher, und wenn ich nicht ohnehin eher am Rand gestanden hätte, als Zugezogene und Evangelische, hätte mir das vermutlich mehr ausgemacht. Es dauerte sowieso nur ein paar Wochen.

Einmal kam Sencan mit Fieber in die Schule, da war sie zuhause ausgebüxt – aus dem Fenster geklettert, wie sie erklärte; sie hatte solche Sehnsucht gehabt. Einmal durfte sie im Unterricht erzählen, was das für wunderschöne rote Zeichnungen auf ihren Händen seien. Und einmal wurde sie aus dem Klassenzimmer geholt und kam nicht wieder, auch nicht am nächsten Tag und nicht am übernächsten, und ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist.

Vergessen habe ich sie nicht. Nicht ihr Lächeln, nicht ihr lebhaftes Erzählen über alle Sprachgrenzen hinweg. Auch nicht vergessen ist der angewiderte Blick der Lehrerin, und wie sie vor sich hin murmelte: auch das noch; und nicht die schweigende Gruppe und die bösen Worte derer, die meistens ganz normale Kinder waren.

Aus dem krummen Haus in der dusteren Gasse war die Familie E. ausgezogen; bald wohnten da die T.s mit dem Sohn, der schon gesessen hatte; aber gottseidank, sagten die Leute im Ort, wenigstens Katholiken, Deutsche, wie es sich gehört.

 

Eine Geschichte zu SoSos Blogaktion.

 

 

16 Kommentare
  1. 5. Februar 2018 19:05

    In meiner Klasse gab es einen Adnan, dem es ähnlich ging. Auch er verschwand, ohne dass jemand es für nötig hielt, etwas dazu zu sagen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.

    • 5. Februar 2018 20:45

      Daß das nötig gewesen wäre, sieht man auch daran, daß wir uns noch erinnern …

  2. 5. Februar 2018 20:51

    Wie schön und wie traurig und wie berührend.
    Danke für diesen Beitrag!

  3. 5. Februar 2018 21:03

    Wahrlich, das ist auch eine Schattenseite! Und du wächst Erinnerungen, bei mir in der Klasse war es Monika, ein sehr schüchternes Kirmesmädchen, das zwei Winterhalbjahre auf der Volksschule mit uns in den Bänken saß und die auch so verspottet wurde, weil sie so ärmlich gekleidet, so schüchtern und so anders war – ich hatte die selben Impulse wie sie und einmal habe ich sie gegen die große Monika verteidtigt, die ein um sich schlagendes Mädchen gewesen ist, ab da hatte sie Ruhe vor ihr. Auch ich weiß nicht was aus dem Mädchen Monika geworden ist, denke aber immer mal wieder an sie.
    Hej, danke, Lakritze!!!
    herzlichst, Ulli

    • 6. Februar 2018 12:15

      So mutig wäre ich gern gewesen. Aber ja, man wüßte gern, was aus diesen Kindern geworden ist …

  4. 5. Februar 2018 23:56

    Bei mir waren es zwei Mädchen in der 3. und 4. Klasse Grundschule: Zwei Freundinnen, die aus dem selben Winkel kamen, und von dort kam man besser nicht. Es waren Roma. Sie wurden in Ruhe gelassen, weil sie größer waren, aber alle machten einen Bogen um die beiden. Ich auch, ich hatte ein bisschen Angst vor ihnen, weil sie so groß und ein bisschen laut waren. Die zwei Mädchen blieben für sich, als wäre eine Mauer zwischen ihnen und uns. Anita und Annemarie. Selbst die Namen weiß ich noch …

    • 6. Februar 2018 12:18

      Und wie — zumindest bei den jüngeren Kindern — immer klar ist, wer auf welcher Seite der Mauer steht! Später zerfällt das Ganze weiter, in Untergruppen und sogar Gruppenlose; aber in der Grundschule ist es noch recht einfach.

    • 6. Februar 2018 22:42

      Jedenfalls regt deine Geschichte zum Erinnern und Nachdenken an. Und schön erzählt ist sie noch dazu. :-)

  5. 6. Februar 2018 11:04

    Sehr schön erzählt. Dieser enge, kleine Kosmos. Wonach hatte Sencan Sehnsucht? Nach der Schule?

    • 6. Februar 2018 12:20

      Nach denen, die sie mochte. Sie weinte, als sie das erzählte, und nahm alle in den Arm; es war ein Wunder, daß ich keine Mumps bekam (die hatte sie nämlich).

  6. 11. Februar 2018 11:57

    Wir hatten eine Johanna, einen Jonas und später einen Phil – von jetzt auf gleich weg, ohne dass irgendwie erklärt wurde warum. Dann irgendwann – das waren die Pflegekinder eines Lehrerehepaars, sonst wären die nie zur Privatschule gekommen – Karim und Sefatullah aus Afghanistan, über die einige Eltern die Nase rümpften. Als die zurück nach Afghanistan gingen machten die Pflegeeltern groß ein Fest zum Abschied – da durften viele Mitschüler nicht hin.

    • 14. Februar 2018 19:01

      Ich weiß nicht, ob den Erwachsenen damals klar war, daß gerade daran sich manche Kinder mal erinnern würden. Mir scheint es wichtig und bedeutsam, an diese Menschen zu denken, ihre Namen zu wissen.

  7. sabeth47 permalink
    15. Februar 2018 16:39

    Und da wünscht man sich, dass dieses Dorfleben schon ganz lange her ist. Ist es wahrscheinlich gar nicht. Auch Lehrer küren schwarze Schafe. (Gruppen tun dies auch)
    Und jede Schulklasse ist ja eigentlich ein Dorf.

    • 15. Februar 2018 17:10

      Ja, diese Prozesse scheinen ziemlich fest verdrahtet … Hilft nur: drüber reden, nachdenken, was man da tut, und ändern, was man kann.

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