Eine gewöhnliche Geschichte, von eins bis Ende
Nummer eins war ein halbes Jahr jünger als sie und übte mit ihr Kino-Küsse hinterm Stall, weil sie ihn zwang. Ganz Bogart und Bergman: sie wie ein widerborstiger Mantel über seinen Arm gekippt, er den Mund weit offen auf dem ihren. Nachher spuckten sie beide eine Weile fremden Speichel. Wahrscheinlich hätten’s die Geigen gebracht; die hatten bei ihnen natürlich gefehlt.
Vor Nummer zwei hatten sie ihre Eltern immer gewarnt. Im Dunkeln war sie aus dem Fenster geklettert, und er tanzte mit ihr, in Ausgehuniform. Rock’n’Roll, deutsches Bier und britische Küsse. Auf dem Heimweg glaubte sie, kurz, I love you heiße Zukunft. Er entjungferte sie und ruinierte ihr das Kleid; das versteckte sie vorm nächsten Osterfeuer im Holz- und Reisighaufen.
Als Lehrling in der Kreisstadt war sie auf Nummer drei, so dachte sie, vorbereitet; doch wie so einer ihr achtlos das Herz zerdrücken konnte, das hatte sie nicht gewußt. Zu Nummer vier sagte sie darum: ich weiß doch, was du willst, und zerdrückte ihm das seine; das tat erst ihm weh und dann, viel später, ihr.
Bei Nummer fünf schaute sie nicht genau. Heiraten mußten sie trotzdem, und zu ihren Eltern ziehen. Er kam immer seltener nachhaus, während sie dort nach und nach versteinte, aber das Kind, zum Glück nur dieses eine, das hatte einen ehrlichen Namen im Dorf. Dann kam Nummer sechs. Nicht gerade Bogart, und Beine hatte er nur anderthalb, doch im Café im Städtchen wuchs und gedieh ihr Herz, und sie erblühte unter Zärtlichkeit. Kaum war sie endlich, endlich frei für ihn, hat ihn der Krieg doch noch geholt: ein wandernder Granatsplitter, hieß es. Nach dem Begräbnis zog sie mit dem Kind weit fort.
Der Rest war Rackerei und die Tochter erziehen, bis die ihr Glück in die eigenen Hände nehmen konnte. Zweidreimal im Jahr erfuhr sie am Telefon von diesem fremden Leben. Dann Rackerei, und abends vor dem Fernseher alt werden. Dann nur noch vor dem Fernseher alt werden. Von der Welt, von der sie nicht viel hielt, hielt sie sich fern. So hätte sie fast Nummer sieben übersehen, der ihr den Einkauf trug und die Zeitung vor die Türe legte. Sie war erstaunt, wie alt die Menschenkörper geworden waren in den letzten vierzig Jahren, und doch waren es ganz brauchbare Leiber. Ein paar Jahre lächelten sie über die Glückszahl sieben, dann starb er friedlich. Sie träumte Nacht für Nacht von ihm.
Seit einem Monat stand sie nun nicht mehr auf. Die Tochter war gekommen, den ganzen Weg aus Afrika, mit Fotos von den Kindern und den niedlichen Enkeln; das alles ging sie nicht mehr sehr viel an. Sie hörte Nummer acht auf leisen Füßen im Zimmer auf und ab gehn. Wie Humphrey Bogart sah er aus, ein schöner Mann voll Schmerz und voll Geheimnis. Nun müßte sie nicht mehr lange warten, bis sie einsetzten, die Geigen.
Beitrag zum Projekt *.txt (8: acht). Nachgereicht.
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Wer auch immer diese Frau gewesen ist, ich bin froh, daß jemand ihre Geschichte erzählt.
Mir gefällt, wie Sie sich für andere erinnern und erzählen.
Danke, aber. Kennen Sie das hier?
Kannte ich schon, ja. Zu diesem Text frage ich mich: Warum ist Freiheit so schwer?
Sie stellen aber auch Fragen …
Das ist ein wunderbarer, auch trauriger Text, der mir unter die Haut geht. Danke.
Danke, Ulli. Ich mußte auch an Deine wunderbaren Großmütter denken …
ja, ich dachte zumindest an die Frauen dieser Generation- danke, dass du dich noch erinnerst- das Ganze schlummert ja ein bisschen im Dornröschenschlaf …
Chapeau!
Siebensonnige Grüsse vom Schwarzen Berg
Danke! Sieben Sonnen sind es hier gefühlt grad auch.