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Scheusal an schöner Aussicht

18. Dezember 2014

Abwechslung macht Freude: wie wäre es mit einem klassischen Sommer-Sonntagsausflug an einem Wochentag bei schlechtem Wetter und, sozusagen, von hinten?

Da dräut sie, die Germania mit ihrem Krieg.

Da dräut sie, die Germania mit ihrem Krieg.

Schönes Wetter ist ja Kleidungssache; das Rheintal aber, das ist bei jedem Wetter schön. Und wenn sich kurz hinter Lorch die Hügel in Dunst und Regenschleiern verlieren, kann man sich ohne großen Aufwand die Bahn- und Autotrassen links und rechts des Wassers wegdenken, die Ufereinfassung auflösen und die Neubaugebiete einebnen; dann sieht man den Rhein fast, wie er vielleicht mal war: eine waldige Spalte im Hügelland, und in kostbarer Tiefe der silbergrüne Strom voller Kormorane und blitzender Möwen.

Wir steigen und steigen, hier und da getröstet von einem Aussichtspunkt, und hinter Aulhausen wird’s endlich eben. Dann geht es durch den Niederwald in der Pracht vergehender Buchen; dann: Parkplatz, dann: Adlerwarte (geschlossen, dito der Andenkenladen), dann: Denkmal.

Die Germania, thronend auf einem Sockel rattenschlechter Lyrik und umgeben von allerhand Allegorien, fällt heute in die Kategorien hä? und ojeoje. Ihre Aussage ist für die Nutznießer einer friedlichen Demokratie unverständlich, und vor so viel teurem patriotischem Schwulst bleibt uns die Spucke weg.

Naja, da isse nun; besteigen darf man sie leider nicht, aber gut hergerichtet hat man sie. Das Schönste, was sich über sie sagen läßt, ist, was Frau Amsels Großmutter erzählte: … und sonntags, wenn die Glocken läuten, da steigt sie von ihrem Sockel, geht runter zum Rhein und wäscht sich das Gesicht …

Jedenfalls: die Aussicht! Bingen mit den umliegenden Logistikzentren, der Inselrhein im Mainzer Becken, das enge Nahetal, das sich am Horizont (heute verhangen) zwischen den Pfälzer Bergen verläuft — mir fährt hier kein vaterländischer Schauder in die Knochen, sondern die reine Wanderlust.

Runter geht’s bekanntlich immer, und schneller als rauf. Auch ganz ohne Gondelbahn, die jetzt dem Wetter trotzend mehr zur Zierde läuft. Die Germania sieht man weithin als dunklen Umriß vor den Wolken. Was sie uns heute sagt, ist: hier Aussichtspunkt!

Herr G., der das Ganze nicht kannte, nennt sie: das Scheusal, und die Strecke: schön. Frau A. kennt die Ecke gut und ist beeindruckt – das allertouristischste Stück vom ganzen Rheinsteig, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen.

Der Winter macht’s möglich.

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17 Kommentare
  1. 18. Dezember 2014 17:31

    Ist halt ein Denk-mal

    • 18. Dezember 2014 17:35

      In der Hinsicht zumindest tut es seinen Zweck. Heute jedenfalls.

  2. 18. Dezember 2014 18:23

    Oh ja… ich erinnere mich. Wir sind, da wohnten wir in Wiesbaden mal nach Rüdesheim gefahren und von dort hochgestiefelt. Wirklich ein bedenkenswertes Scheusal, diese Wacht am Rhein.

    • 18. Dezember 2014 18:39

      Muß man gesehen haben, doch. Auch um zu ahnen: früher war nicht alles besser … ,)

  3. 18. Dezember 2014 18:36

    Ein schöner Rücken kann auch entzücken!

    • 18. Dezember 2014 18:42

      Ja, das finde ich auch. Es gibt sogar Sachen, die von hinten schöner sind als von vorn.

    • 18. Dezember 2014 18:46

      Und dieses Haar … Hach!

    • 18. Dezember 2014 19:26

      Das? Damit vergrämt sie Tauben.

  4. Trippmadam permalink
    18. Dezember 2014 19:29

    Schön ist sie wahrlich nicht. In meiner Familie hat sie den Spitznamen „Bleed-Kuh-Denkmal“ (für Leute, die des Rhein-Main-Gebiets-Hessischen nicht mächtig sind: das Denkmal der blöden Kuh) bekommen. Das kam so: ein kleines Mädchen aus dem Bekanntenkreis wurde auf einer Wanderung einmal sehr müde. Die Eltern versuchten, es mit dem Hinweis auf die in der Ferne schon zu erahnende Germania zum Weitergehen zu bewegen. Die Antwort: „Bleed Kuh, will ich net sehn!“

    • 18. Dezember 2014 19:40

      Haha! Wunderbare Geschichte; bzw.: das Geschichtchen viel wunderbarer als die Geschichte.

  5. 18. Dezember 2014 22:51

    Und tolle Fotos natürlich.

    • 18. Dezember 2014 23:20

      Och, war kein Fotowetter. Aber ich kann’s meist trotzdem nicht lassen. Danke.

  6. 19. Dezember 2014 10:26

    Dein Text ist genial. Hast du mal dran gedacht, deine Wandertexte als Buch zu bündeln? Und alle andern sowieso?

    Auch die Bilder sind toll. Das Pfützenbild ist mein Favorit.

    Wetter ist Kleidungssache, genau!!

    • 19. Dezember 2014 10:59

      Oh, danke, Soso! (Buch? Ich bin ja schon froh, wenn ich meine Wandertexte aufs Blog bekomme.)
      Ich war sehr erfreut, daß meine steinalte Wolljacke mich in Kombination mit einem Schirm sogar bei ziemlichem Regen warm und trocken hält.

  7. 28. Dezember 2014 5:52

    Ein Scheusal mit Weltkulturerbe-Status.

Kommentare sind geschlossen.