Zum Inhalt springen

Unterschätzte Literatur

7. April 2013

Einmal im Jahr, wenn es Frühling wird, liegen sie in den Mietshauseingängen, stapelweise verschmäht und jeden Tag zerzauster, bis eine mitleidige Seele sie mitnimmt in Richtung Papiercontainer: die lokalen Branchenbücher.

Mein Rat: Nehmen Sie eins an sich. Kochen Sie sich einen Kaffee, setzen Sie sich in Ruhe hin, widmen Sie diesem unterschätzten Druckerzeugnis ein wenig Aufmerksamkeit. Es wird sich lohnen. Je nach Region unterschiedlich umfangreich (hier in der Gegend sind es knapp 300 Seiten), läßt das Branchenbuch wirklich keine Wünsche offen. Zwischen Abbeizarbeiten und Zylinderschleifereien öffnen sich Welten, Wege und Abwege für die Gedanken. Unterhaltung für Anspruchsvolle.

Hier stehen sie zunächst einmal wertfrei nebeneinander, alle denkbaren und undenkbaren Branchen, aussterbende und eben erst erfundene Berufe, nur dem ordnenden Prinzip des Alphabets unterworfen.

Die subtile Poesie dieses Verzeichnisses erschließt sich, wenn man sich ein wenig hineinvertieft. Und siehe da: auf Wasserbetten folgt Wasserschadenbeseitigung, nach Banken und Sparkassen kommen Bankeneinrichtung und -bedarf und Bars, Naturstein folgt auf Naturkost, Detekteien auf Dessous, auf Unterricht Vakuumtechnik.

Zahntechnische Laboratorien, Zauberkünstler, Zaunbau — setzt das etwa nicht die Phantasie in Gang? Spätestens bei Geflügelzucht, Geigen, Geistiges Heilen gibt es kein Halten mehr. Feinmechanik und Feng Shui in trauter Nachbarschaft, Asphaltarbeiten und Astrologie, Gabelstapler und Gästehäuser, Parkhäuser und Partnervermittlung, Bestattungen und Beton. Wer hat da nicht gleich Sachbücher, Romane, Krimis im Kopf?

Auch rätselhafte Branchen gibt es. Behälter? Essenzen? Netzwerke? Normteile? (Geeignete Titel für Lyrikbände!) Und kennen Sie Fernverpflegung? Das finde ich persönlich viel hübscher als Catering.

Eine Lücke gälte es noch zu schließen: Für beinahe jeden der sechsundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets hat das Branchenbuch etwas zu bieten. Unter J stehen Jalousien, Journalisten und Juweliere, unter Q Qualitätsmanagement und unter Y Yoga. Nur den Beruf mit X, den muß noch einer erfinden.

 

 

 

29 Kommentare
  1. Philipp Elph permalink
    7. April 2013 19:41

    Xylophonbauer! Oder gibt’s den nicht?

    • 7. April 2013 19:46

      Haha! Also, hier in der Gegend jedenfalls nicht. Ein Xylophonbauer bräuchte auch gar keine mehrspaltige Anzeige; der würde so schon auffallen. (Die Abflußreinigungsfirmen, die haben sogar ganzseitige Anzeigen hier!)

    • 7. April 2013 19:50

      Genau der fiel mir auch spontan ein. Wahrscheinlich lohnt sich für einen solchen kein kostenpflichtiger Eintrag, da er längst in Fernost sitzt und dort wohl kaum auf Laufkundschaft wartet.

    • 7. April 2013 19:53

      Aber ein Xylophonstimmer. Der müßte ja schon aus praktischen Gründen um die Ecke wohnen, oder? Mit Feile und Holzleim …

  2. 7. April 2013 19:50

    Xerographiker? Oder Xanthippenjäger? Oder Xenondetektiv? Alles nicht dabei?
    Ich sag’s ja: Servicewüste Deutschland ;-)

  3. 7. April 2013 19:55

    Unter Xenophobiebekämpfer könnte man ja auf Integrationsbeauftragte hinweisen. Aber die sucht man wohl nicht im Branchenbuch.

  4. karu02 permalink
    7. April 2013 19:56

    Bei uns um die Ecke gibts den Xantener Bürgermeister/Stadtkämmerer/Nachwächter, aber das „gildet“ wohl nicht?

    • 7. April 2013 20:11

      Xanten und Quedlinburg haben hier natürlich unfaire Wettbewerbsbedingungen …

  5. 7. April 2013 21:54

    da müsste man ein geschäft mit x eröffnen … irgendwie …
    genialer text!
    ich surfe nicht nur gerne in branchenbücher sondern auch in telefonbüchern. den guten alten aus papier.
    :-)

    • 7. April 2013 22:01

      Diese Sorte Surfen geht nur auf Papier. Nix mit kontextsensitiven Ergebnislisten, Kartendarstellungen und Umkreissuchen. Einfach C nach B nach A. Liebe ich sehr. (Inzwischen würde ich mich über ein 30 Jahre altes Branchenbuch freuen. Ich glaube, die haben sich sehr verändert.)

  6. 7. April 2013 22:05

    aber weisst du, manchmal ertapp ich mich bei kleinschrift, dass ich mit den fingern vergrössern will (die iphonebewegung) oder dass ich mir die suchenfunktion (textscannenI wünschte, wenn ich in papierbüchern etwas suche. schlimm :-)
    (vielleicht auf dem flohmarkt? oder im antiquariat? oh, da fallen mir die alten verzeichnisse ein, die wir in der buchhandlung, wo ich meine ausbildung machte, hatten … nach stichwort bücher suchen – das war hohe kunst!)

    • 8. April 2013 16:32

      Bücher nach Stichwort –? Da muß ja jemand Stichworte vergeben haben … von Hand … für alle Bücher … waah! Das, und die Suche darin, klingt wirklich nach hoher Kunst. (So einen Katalog würde ich natürlich auch gerne mal sehen. Gibt es das, ein Museum für Verzeichnisse?)

    • 8. April 2013 18:00

      frag mal in antiquariaten oder alteingesessenen buchhandlungen! ja, das ist wirklich ein erlebnis. und ich gestehe: manchmal vermisse ich es!

  7. meme permalink
    8. April 2013 10:25

    Ich könnte mit 35 Jahre alten Ikea Katalogen dienen, oder fast so alten „Test“ Jahrbüchern. Interessant, was damals so in Mode und allerletzter Schrei der Technik-, Nahrungs-/Genußmittel- und Körperpflege-Industrie war.

    Auch interessant alte Handarbeits-Journale, deren Materiallisten für hübsche „old school Modelle“ man oft nur noch beim Durchforsten von Uralt-Branchenbüchen abarbeiten kann.

    • 8. April 2013 16:33

      Oh! Das nenne ich tapfer aufgehoben. Es sollte wirklich jemand ein Museum für so was gründen. Irgendwann ist das sicher interessant!

  8. 8. April 2013 10:40

    Das passende Holz fürs Möbel? Das geeignete Holz fürs Musikinstrument? Probleme mit Holzwürmern oder Schimmel? Was tun bei Holzbock — oder gar Holzkopf? Wie wird ein Krummholz wieder gerade? Was für Holz trägt diesen Sommer der Herr, die Dame von Welt?

    Bei Fragen rund ums Holz — der Xylologe weiß Rat!

    • 8. April 2013 16:34

      Haha! Ich sehe: ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Branchenbuchredaktionen.

      (Und das meistgetragene Holz in dieser Frühjahrssaison: Kaminholz. Was sonst.)

  9. 8. April 2013 11:03

    Jetzt hast du mich neugierig gemacht, Lakritze. Mir flatterten die Gelben Seiten vor ein paar Tagen auch automatisch ins Haus (obwohl ich vorher eine Karte von der Post bekam, die Telefonbücher lägen dort zur Abholung bereit) – und hier gibt’s auch nix mit X…
    Gab es da nicht mal einen Sketch mit dem Telefonbuch, eine Parodie auf Ranitzki, aber von wem, von Gerhard Polt? Aber ich finde nur diese, von Harald Schmidt: http://www.youtube.com/watch?v=yXKc9xwNHlA

    • 8. April 2013 16:37

      Beruf mit X — war wohl nix. Ich frage mich ja, ob die Branchen in jeder Gegend der Republik die gleichen sind. Und wer legt das fest? (Ich muß aber gestehen, daß ich vergleichende Literaturwissenschaft auf diesem Sachgebiet, ähm, lieber den Fachleuten überlasse. .))

  10. 8. April 2013 16:43

    X-ray Institutes, aber wer braucht die schon.

    • 8. April 2013 16:49

      Also, wer doch welche braucht: die finden sich unter –> Medizinische Geräte, weitergeleitet von Röntgenapparate- und Bedarf.

  11. 8. April 2013 17:06

    Haha, wunderbar, liebe Lakritze!

    • 8. April 2013 17:19

      Danke –! Ich bin ja altmodisch, weshalb ich gern auch Papier besitze. Und siehe da: neulich fiel für gut einen Tag das Netz aus, und ich brauchte es tatsächlich, mein Branchenbuch.

  12. 8. April 2013 18:12

    wunderbarer text zu einer wahrlich unterschätzten literaturgattung!
    manche deiner zusammenstellungen klingen wie begriffspoesie.
    das ließe sich auch anhand von lexika und wörterbüchern fortschreiben.

    früher habe ich gerne im brockhaus geblättert und mir die artikel eines buchstabens auf einer seite der reihe nach angeschaut, nur um dann als lauter lust an der analogiebildung texte daraus zu bauen. ein spaß sondergleichen. und es kam nicht nur dadaloger nonsense dabei heraus.

    ich werde jetzt die branchenbücher im treppenhaus nicht mehr links liegen lassen. danke für den literaturtipp.

    gelbe grüße, uwe

    • 9. April 2013 8:31

      Danke, Uwe! Lexikonsurfen — eine der schönsten Tätigkeiten meiner Kindheit. Für Lexika, Wörterbücher und seltsame Wissensgebiete habe ich eine Schwäche. Im Gegensatz dazu ist das Branchenbuch zumindest ein billiges Vergnügen!

  13. 8. April 2013 22:52

    „Von Aalräuchereien bis Zylinderstifte“ lautet der Werbespruch der Gelben Seiten Berlin seit Jahrzehnten …

    • 9. April 2013 8:32

      Haha! Aale gibt es hier nicht, und es wird eher gebeizt als geräuchert. Aber hat denn Berlin ein X?

Kommentare sind geschlossen.