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Natural Born Korrekturleserin II

29. Februar 2012

Der harte Stuhl mit der metallenen Rückenlehne zwingt mich in eine unbequeme Haltung. Der Raum — Steinboden, gekalkte Wände und Gewölbedecke, eine Treppe auf der Stirnseite und gegenüber drei winzige Fensterluken — liegt im Halbdunkel; ich erkenne schattenhaft vielleicht ein halbes Dutzend Menschen. Meine Jacke (und mit ihr meine Waffe) haben sie mir natürlich abgenommen.

Von der niedrigen Decke blendet eine Halogenleuchte. Noch bevor ich einen Blick auf das Schriftstück werfe, das im Lichtkreis auf dem Tischchen vor mir liegt, ist mir klar: Sie wollen mich fertigmachen. Und das hier ist der perfekte Ort dafür.

Der Mann im schwarzen Anzug wendet mir den Rücken zu, aber ich weiß, daß jede Bewegung seine Aufmerksamkeit auf mich lenken wird. An Flucht ist nicht zu denken. Also setze ich auf Kaltblütigkeit. Ich ziehe das Papier zu mir heran, beiße die Zähne zusammen und lese.

Es beginnt leicht, fast spielerisch. »Gemischter Salat mit Pute und Champions«. Ich atme aus. »Heringsalat mit roten Beeten«. Sollte ich sie überschätzt haben?

Nein, das war nur Vorgeplänkel; jetzt kommen härtere Geschütze: »Hänschenschenkel mit Zitronensosse«. Ich balle die Faust unterm Tisch. Das »Steack« stecke ich weg, das »Pürree« kann ich parieren, aber dann:

»Rehgoulach mit Marronenmuss«.
»Raucherlachs, Pastinackengemüse und Reißbällchen«.

Und als wäre das nicht genug:
»Boulabaise«.

Der Kellerraum verschwimmt; mein Blickfeld verengt sich auf die Karte im unbarmherzigen Halogenlicht. »Schockoladentörtchen«. »Crémé brullè«. Nichts anmerken lassen … »Vanillie Traum«. Ich spüre meine Kiefer mahlen, als der Mann im Anzug ganz dicht zu mir tritt: »Sie wissen schon –?« Ich atme bewußt aus und hoffe, meine gebleckten Zähne gehen als Lächeln durch. »Danke, ja.« Er läßt nicht locker: »Unsere Tafel mit den Tagesempfelungen …« –

»Danke!!« Ich schaue dem Mann gerade in die Augen. Sein lauernder Blick wird eine Spur weniger erwartungsvoll. Er weiß, das Spiel ist aus. »Ich hätte gern die 6, die 27 und ein Wasser.« – Er geht, und er geht wie ein geschlagener Kämpfer. Ich lasse mich gegen die Rückenlehne sinken. Ich habe es überstanden.

Als das Essen kommt, steht auf der Serviette: »Wir wünschen ihnen guten Appetit.«

Wem?, wimmert eine Stimme in mir, wem??

 

Hier finden sich Teil I und Teil III der Serie.

22 Kommentare
  1. 29. Februar 2012 20:29

    Wunderbar, liebe Lakritze! Ich bin begeistert von diesem fabelhaft spannenden Stückchen : )

  2. Philipp Elph permalink
    29. Februar 2012 20:42

    Richtig zum Brullèn, diese Geschichte. Ich gehe davon aus, das es eine recht übertriebene ist – oder doch nicht?
    Manchmal ist es ihnen wohl ernst mit der Karte:
    http://www.qype.com/place/2103891-Legends-Pizza-Company-Wiesbaden

    • 1. März 2012 10:15

      Naja, es ist ein Best-of der Restaurantbesuche (bzw. der Sachen, die ich nicht vergessen habe). Bei Karten von »ausländischen« Restaurants (wie Dein Pizzakarten-Beispiel) bin ich gespalten; ich mag es zum Beispiel sehr, wenn Dottore Giovanni schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Aber auch das will gekonnt sein …

  3. 29. Februar 2012 21:25

    Ach, Lackritze, wir finden, hier bisst Du kleinlich. Man muß auch mal 5 grade sein lassen, vor allem, wenn es um’s Essen geht. Die roten Beete schätzen wir nämlich so sehr, das wir über diewerse Schreibfehler locker hinweg sehen können. Zum Beispiel, so denken wir, hat jeder das recht auf seiner Saite, der ein Schockomuss anbietet, denn, ma ehrlich: so was muß einfach mal sein! Jeder Schokoschock, wie auch immer er geschriben wird, ist bei uns herzelich willkommen!

    • 1. März 2012 10:31

      Waaaaah! :) Ihr wißt aber schon, daß ihr sozusagen an der Quelle des Schokoschocks sitzt? Das italienische Restaurant in der Karlstraße (Name vergessen) hat diese Schokoladentorte — unglaublich, ein schmelzender Schaum. (Pro-Tip: Vom Chef erzählen lassen, wie er an das Rezept gekommen ist.) Ich könnte wirklich nicht sagen, in was für einem Zustand die Speisekarte ist …

  4. 29. Februar 2012 22:00

    Vielen Dank Lakritze, das ist großartig. Die Boulabaise finde ich besonders schön, aber nein, eigentlich alles. Wobei ich hier wirklich nicht Steine aus dem Glashaus werfen möchte, ich selbst habe des öfteren ein Tippfehler-Problem.

    • 1. März 2012 10:33

      Naja. Ich mußte einfach mal mit dem Mythos aufräumen, Korrekturlesen sei nur eitel am Schreibtisch sitzen und auf dem Rotstift kauen. Das ist harte und gefährliche Arbeit, die wir da machen!
      Und: Tippfehler sind kein Problem — wenn’s drauf ankommt, gibt es ja Korrekturlesereien … (Im Netz habe ich übrigens gesehen: Eine Speisekarte kriegt man für 40 Euro korrigiert.)

  5. ottogang permalink
    29. Februar 2012 22:26

    Du konntest ohne Waffe lesen ?

    Ganz ehrlich, warst Du zum Essen dort oder zum oberlehrerhaften rumkorrigieren ?

    Sei doch nicht so pingelig.

    • 1. März 2012 10:37

      Tja, so ist das halt mit professionellen Besserwisserinnen.

  6. 29. Februar 2012 23:06

    Hi, hi …

  7. 1. März 2012 0:59

    Und es gab keine Limonensauce? Die kann man zwar auch noch falsch schreiben. Das hat sie aber gar nicht nötig.

    • 1. März 2012 10:40

      Ist sie so gut oder so schlimm –?

    • 2. März 2012 16:56

      Diese Kreuzung von Limetten und Zitronen ist mir gänzlich unbekannt. Und eine Sauce daraus möchte ich im Restaurant nicht gerne haben.

  8. 1. März 2012 8:14

    Brüll.
    Was das Hänschen nicht lernt…

    • 1. März 2012 10:44

      … das könnte Hans doch einfach nachschlagen! Aber nein. Ich sag’s ja, die machen das, um mich zu quälen …

  9. 2. März 2012 13:01

    Wenn das Hänschen nicht ordentlich lernt, wirds eben gegrillt und mit Sosse verzehrt, so ist das. Bei Restaurants von Betreibern nichtdeutscher Herkunft lasse ich mich gerne mal amüsieren, bei den anderen würde ich nicht essen wollen. Wieso sollten sie dann das können? PS: 40 Euro sind ganz schön viel, wenn man Tages- oder Wochenkarten hat.

    • 3. März 2012 12:59

      Aber so einmal im Jahr geht das schon, denke ich. Damit eine Grundordnung drin ist.
      (Und wenn das so weitergeht mit dem Praktikanten-und-Selbständigen-Unwesen, finden sich vielleicht bald Menschen, die das Korrekturlesen für eine warme Mahlzeit übernehmen …)

  10. 8. März 2012 12:13

    Köstlich! Ich sehe ja zumeist auch die Schreibfehler anderer, aber zum Glück bin ich keine berufliche Fehlersucherin und fühle mich nicht so leicht gefoltert, sondern amüsiere mich eher über solche Speisekartenschnitzer.

    • 8. März 2012 13:24

      Es erfordert Konzentration, aus dem Korrigier- in den Amüsiermodus zu wechseln, sobald man an einem anderen als dem Schreibtisch sitzt. Die fehlt mir manchmal. .)

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