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Erste Liebe

3. Januar 2010

Es begann hoch oben, auf einer Fensterbank im zweiten Stock. Ich ließ die Beine baumeln und verschaffte mir Überblick; zwei Wochen Sommerseminar lagen vor mir. Unten auf dem Hof die Schöpfe der anderen und sein Nacken: er mußte sich zu Gesprächen bücken. Als er gegen alle Wahrscheinlichkeit aufblickte, strahlte er mich an: »Schöne Frau am Fenster, komm doch!« Und ich ging hin, entgegen allem, was ich sonst vertrat. — Später merkte ich, er hatte Höhenangst. Auch für mich.

Er war ein Prinz. Spöttische Augen und gewinnendes Lächeln; ein schöner Riese mit Vorliebe für geblümte Herrenhemden. Ideen flogen ihm in dichten Schwärmen zu. Er riß die anderen mit und dachte doch immer, für sie sei es müheloser als für ihn. Das Lampenfieber ließ ihn selbst auf der Bühne nicht los.

Bei der ersten Zimmerparty flüsterte ich ihm ins Ohr, ich hätte keinen Bauchnabel. Einen Augenblick lang glaubte er mir. Morgens fand ich ein Blatt Papier an meiner Tür; seine Botschaft führte mich Buchstabe für Buchstabe über das ganze Gelände. Spätabends nahm ich ihn mit auf ein Baugerüst. Darüber, daß ihm die Dunkelheit unheimlich war, lachten wir in dieser Nacht.

Jeden Tag erfanden wir uns neue Symbole. Am Bahnhof überreichte ich ihm zum Abschied die Schere, mit der ich das Schneiden gelernt hatte. Damit er sein Herz wieder losmachen könnte. Aber dann stiegen wir in denselben Zug, und wir fuhren beinahe gleich weit.

Beim letzten Umsteigen hielten wir einander so fest wir nur konnten. Ein alter Mann am Bahnsteig rief: »Na, na, na. In fünfzig Jahren ist alles vorbei!« Da mußten wir doch weinen.

Wir waren siebzehn Jahre alt. Wir konnten noch nicht unterscheiden, ob das ein Ende war oder ein Anfang.

11 Kommentare
  1. 3. Januar 2010 23:43

    Reine Poesie! Danke für den wunderbaren Text. (Ich bin ganz aufgeregt und will gar nicht wissen, ob es ein Ende war oder ein Anfang.)

  2. karu02 permalink
    4. Januar 2010 12:13

    So schön geschrieben! Danke für dieses Text-Geschenk.
    Als ich 17 war, lief es auf lebenslänglich hinaus, wie ich heute weiß.

  3. 4. Januar 2010 12:55

    Frau Evenaar, bitte wegsehen. War es denn ein Anfang, liebste lakritze?

    • joulupukki permalink
      6. Januar 2010 0:43

      Danke oachkatz. Das wollte ich jetzt auch fragen! Aber ich erinnere mich dunkel an eine ähnlich berührende Geschichte, die etwas traurig endete …

  4. philipp1112 permalink
    4. Januar 2010 23:18

    Das ist so schön! Mit 17 war bei mir Tanzstunde. Grausam! Etliche Jahre zu früh für mich, um über Anfang und Ende zu filosofieren. Das Alter gehörte noch zu meiner pränatalen Phase.

  5. lizzybarry permalink
    6. Januar 2010 12:17

    Hallo Lakritze, sehr schöner Text!! can’t seem to send you mail. schickst du mir bitte mail mit deiner aktuellen adresse, wg info fief. danke & bonne année

  6. kormoranflug permalink
    7. Januar 2010 14:23

    Die erste alte Liebe im neuen Jahr, was hat das zu bedeuten? Schluchz…so ein schöner Text.

  7. 7. Januar 2010 16:53

    Danke, Ihr Lieben. Ich sage nichts dazu, sondern schreibe mal weiter. Vermutlich.

  8. 8. Januar 2010 10:13

    Lass Dir ruhig Zeit, sicher ist hier niemand neugierig…

  9. richensa permalink
    9. Januar 2010 15:01

    Wunderschön, liebe lakritze…

  10. 15. Januar 2010 2:52

    Ich bekomme Herzklopfen und erinnere mich an ähnliche Momente. Danke, liebe Lakritze.

Kommentare sind geschlossen.