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Ein Volk stellt sich aus

18. Juli 2009

Ich habe mich ein bißchen verliebt. Es ist eine Fernbeziehung, übers Internet, sehr voyeuristisch und vollkommen einseitig: Sie heißt One and other von Antony Gormley.

Mein Fenster auf den Trafalgar Square

Mein Fenster auf den Trafalgar Square

Auf dem Trafalgar Square, 1820–45 angelegt, gruppieren sich um die berühmte Bildsäule Admiral Nelsons vier Sockel. Mit drei Reiterstandbildern — das vierte wurde zunächst aus Geldgründen nicht errichtet; später konnten sich die Stadtväter nicht einigen, wer auf den Sockel darf.

In einer Reihe zeitgenössischer Kunstprojekte hat nun Antony Gormley den Sockel für 100 Tage belegt. Bei ihm dürfen alle nach oben: 2400 gewöhnliche Briten, jeder eine Stunde lang, 24 Stunden am Tag. Das Ganze wird von mehreren Kameras aufgezeichnet und live per Internet übertragen.

Frauen und Männer sind gleich stark vertreten und aus jeder Region Großbritanniens so viele, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Regeln sind einfach: Feuer und Waffen sind verboten, Betrunkene nicht erwünscht. Gesetz ist Gesetz. Man muß seine Stunde auf dem Sockel allein verbringen, darf sich aber kostümieren und alles an Gegenständen mitbringen, was man tragen kann.

Ein lebendiges Porträt der Menschen des Vereinten Königreichs will Gormley dort auf dem vierten Sockel erschaffen, durch ganz normale Leute, die einfach sie selbst sind. Er macht keine Vorgaben für die Stunde auf dem Präsentierteller. Nunja, »normal« ist naturgemäß etwas schwer zu fassen, und ob sich wirklich ein repräsentativer Querschnitt der britischen Bevölkerung auf diesen Sockel hieven läßt, wage ich zu bezweifeln.

Ich schaue jedenfalls jeden Tag nach, was die Briten da oben treiben. Und, oh, da gibt es was zu sehen: die Profi-Harfenistin, den Elvis-Imitator, Engels- und Tierkostüme aus Plüsch und Draht, Transparente, Luftballons und Sportgeräte. Manche nutzen ihre Stunde, um für einen guten Zweck zu werben oder für ihre Seifenfabrik; andere machen Bilder, zeichnen, fotografieren, filmen. Viele begeben sich in den Dialog mit den Zuschauern, die unten stehen, oder posieren für die Kameras. Und einige wenige machen nichts. Sie stehen oben, wie sie unten stehen würden: Statuen betrachten ihre Betrachter.

Dabei sind die »Figuren« nur ein kleiner Teil dessen, was hier passiert: Die Zuschauer auf dem Platz rufen, lachen, pfeifen, sie fangen Papierflieger, Bonbons, T-Shirts, abgeschnittene Haarsträhnen auf. Die Medien berichten unterschiedlich angetan; von Euphorie über Parodie bis hin zum Totalverriß ist alles dabei. »To plinth« ist inzwischen ein reguläres englisches Verb. Und dann sind da noch die heimlichen Beobachter im Netz, jeder mit seinen ganz persönlichen Reaktionen.

Warum schaue ich mir das an? Das, was mich an Richensas, Garganos, Hykes Blicken in fremde Fenster fasziniert, das habe ich hier in anderem Rahmen; ohne die Kontinuität, dafür mit Einwilligung derjenigen, die ich beobachte: scheinbare Intimität; ein endloses Entstehen von Geschichten in meinem Kopf, in anderen Köpfen. Menschen, emporgehoben.

Gleichzeitig kann ich das Rauschen im Netz wahrnehmen, das Echo der Präsenzen, der Aktivitäten, der Biographien auf dem Sockel: »– Großartig! — Ich bewundere Gormleys Werk! — Und das soll Kunst sein? Langweilig! — Der Mann von heute nacht um Drei sollte wirklich kein Latex tragen. — Schon wieder einer mit Mobiltelefon! — Wenn ich auf den Sockel käme, ICH würde etwas Kreatives tun … — Ihr Idioten: das ist doch alles nur ein Marketing-Gag! –«

Letztendlich sind es aber wohl doch Bilder, die mich anziehen. Die junge Frau, die unter ihrem Regenschirm wartet, daß ihre Stunde verstreicht. Der Herr im Maßanzug, der unbeweglich naß wird. Die Bibliothekarin, der ihre Aufregung ins Gesicht geschrieben steht. Der Tod auf dem weißen Fahrrad.

Und irgendwo muß es ihn doch geben, den Durchschnitt? Vielleicht kommt er hier zustande, in einer unscheinbaren Stunde auf dem vierten Sockel auf dem Trafalgar Square in London. Ich werde es mir anschauen.

28 Kommentare
  1. donqyxote permalink
    18. Juli 2009 23:29

    das hört sich sehr spannend an, ich muss mal deinen linken folgen.

  2. donqyxote permalink
    18. Juli 2009 23:45

    Es ist spannend, ich hab mich auch verliebt, ist das für Dich ok, lakritze ?

  3. 19. Juli 2009 1:10

    Auch ich:-)
    Hazel bügelt gerade und sagt kein Wort, nun warte ich…

  4. 19. Juli 2009 10:30

    Verliebt euch nur — es sind genug Briten für alle da!

    Sonntagmorgens mag ich immer sehr die Glocken der umliegenden Kirchen, die deutlich anders gestimmt sind als unsere.

  5. 19. Juli 2009 15:18

    Die Glocken bimmeln ja über Stunden hinweg den ganzen Sonntagmorgen, scheint es! Und auch hier zeigt es sich wieder, wie gerne die Briten sich verkleiden. Danke für den Hinweis!

  6. 6kraska6 permalink
    19. Juli 2009 15:37

    Tolle Sache! Danke für den Tipp….

  7. karu02 permalink
    19. Juli 2009 16:57

    Hach, einmal eine Säulenheilige sein…

  8. 19. Juli 2009 18:06

    Ich habe ja inzwischen den Verdacht, daß hier das Londoner Wetter ausgestellt wird. Mitsamt richtiger bzw. falscher Kleidung.

  9. donqyxote permalink
    20. Juli 2009 12:42

    mein wagemutiger Versuch, die Säulenheiligen qypebekannt zu machen, ist kläglich gescheitert. Gelöscht !

    • 20. Juli 2009 12:51

      Oh?! Ich hatte den Beitrag gesehen (es sind dauernd Leute von da hierhergekommen :)). Vielleicht lassen sie ihn unter »Events« stehen?

  10. donqyxote permalink
    20. Juli 2009 15:22

    Das ist mir zu blöd, wenn dann sind das 2400 events auf einem Platz.

  11. 20. Juli 2009 15:37

    Achja, ich hatte nicht an die Hindernisse auf Qype gedacht … :))

  12. 20. Juli 2009 17:20

    Die haben tatsächlich den Beitrag gelöscht? Gleich am Montag morgen? Dann werde ich auf dem Fourth P. kleine Karos zeichnen…

  13. 6kraska6 permalink
    20. Juli 2009 17:25

    Darf ich ein einziges Mal drastisch werden? Die Qype-Heinis sind mit Verlaub Arschlöcher, BIG FLAMING ASSHOLES. (Wörter, die ich bei Qype nicht benutzen darf…)

    • 29. Juli 2009 2:23

      Lieber Herr Kataraska,
      «drastisch» ist mit Verlaub keiner Genehmigung bedürftig und wird GROSS geschrieben, jedenfalls bei der Firma HQ. (etwa so, wie Deine FLAMINGO ASSHOLES)

  14. 20. Juli 2009 18:04

    Ich hätte mich gewundert, wenn sie’s stehengelassen hätten. Die kleinen Karos sind halt wirklich typisch. Schade drum.

  15. donqyxote permalink
    20. Juli 2009 18:57

    Es gibt jetzt ne nette kleine, von Manfred angezettelte Diskussion über die verlorene Leichtigkeit auf qontrovers, IHR KÖNNTET EUCH AUCH MAL EINMISCHEN !!!

    Dabei hätten die einfach eine Postkarte mit dem qypelogo auf das Podest setzen können, hätte nichts gekostet und wäre ein weltweiter Werbeeffekt.

    Lieber löschen, weil ich nichts über die Tauben vom trafalgar square geschrieben hab !

  16. Pitufo permalink
    20. Juli 2009 19:37

    Ich schließe mich bei diesem Thema der Ansicht von Kraska an. Ich denke, mehr ist dem nicht hinzuzufügen.

  17. 21. Juli 2009 0:40

    Donqy, lass den Kopf nicht hängen, deshalb schreibe ich z.Z. da nichts mehr. Immer wieder die gleichen Probleme. Aber…. liebe Lakritze, wegen Dir habe ich Probleme, ins Bett zu gehen. Bissi süchtig macht das schon…

    • 21. Juli 2009 10:15

      Schuldigung, hyke. Hoffe, Dein Nachtschlaf kommt nicht zu kurz.
      (Was ich gern mache: Bildschirmarbeit mit Trafalgar Square-Sound. Wenn was passiert, kriegt man’s mit.)

  18. donqyxote permalink
    21. Juli 2009 1:57

    Wer ist den euer Favorit ?

    Ich finde die Hazel suprer und die Frau, die Wolle gesponnen hat.
    Der ist auch gut:http://www.oneandother.co.uk/participants/Kevsmart007

    Hyke, ich kann meinen Kopf grad nicht mal drehen und gar nicht hängen lassen..

    • lakritze permalink
      21. Juli 2009 9:51

      Kann ich fast nicht sagen; sie haben alle irgendwas.
      Klasse fand ich _ihn_ (offenbar nicht als einzige), und als _sein_ Fahrrad ins Sicherheitsnetz fiel, hat er’s mit seinem Schlips gerettet. Die Putzfrauen gestern mochte ich sehr, und dann war da eine Schottin, die auf einem Aufblassessel saß und frühstückte, morgens um halb Sechs …

  19. donqyxote permalink
    21. Juli 2009 10:51

    Mein qypebeitrag 2. Versuch scheint nun akzeptiert, der gestrige Löscher findet es heute lesenswert.

  20. joulupukki permalink
    21. Juli 2009 21:31

    Hihi … die herrlich durchgeknallten Briten ziehen ihre Kreise bis in quontroverse freiwillige Gratishilfsarbeiterplattformen. Schöner Spannungsbogen :-D

  21. Botschaft permalink
    8. August 2009 22:59

    Ich habe mich letzte Woche auch um eine Stunde auf dem Square beworben, wurde aber (die Platzvergabe findet per Auslosung statt) leider abgelehnt. Ich hatte so eine wunderbare Idee auf Lager…

    • 9. August 2009 18:54

      Hmmmm. Es könnte auch damit zu tun haben, daß sie nur Briten ausstellen …

      Was hättest Du denn vorgehabt? (Das habe ich mich natürlich auch schon gefragt …)

    • 9. August 2009 18:59

      Das war nicht das Problem, denn ich habe eine britische (Zweit-) Adresse.

      Meine Idee ist aber so brisant, dass ich sie in dieser Kommentarspalte nicht veröffentlichen kann, demnächst aber sicher auf meinem eigenen weblog.

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